v.l.n.r: Samuel Schneider, Caroline Link, Ulrich Tukur in München |
Nach dem internationalen Erfolg von Nirgendwo in Afrika kehrt Oscar-Preisträgerin Caroline Link wieder nach Afrika zurück und präsentiert mit ihrem Kinofilm EXIT MARRAKECH ein außergewöhnliches Familiendrama vor der faszinierenden Kulisse Marokkos.
Kurzinhalt
Als der 17-jährige Ben (Samuel Schneider) seinen Vater Heinrich (Ulrich Tukur), den gefeierten Regisseur, der in Marrakesch an einem internationalen Theaterfestival teilnimmt, besucht, beginnt für ihn kein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Seine Umgebung ist ihm genauso fremd wie sein geschiedener Vater, mit dem er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder seine Sommerferien verbringen soll. Während die beiden immer weiter auseinanderdriften, öffnet sich Ben mehr und mehr dem ihm fremden Land und sucht sich, fernab von Vaters Luxushotel, seine eigenen Wege in der unbekannten Welt.
Er verliebt sich in die junge Karima (Hafsia Herzi) und folgt ihr in ihr entlegenes Heimatdorf im Atlasgebirge. Als Ben sich tagelang nicht meldet, macht sich Heinrich erst widerwillig, dann zunehmend besorgt, auf die Suche nach seinem verschwundenen Sohn. Während sie beide das ihnen fremde Land bereisen, scheint alles möglich zu sein: sich endgültig zu verlieren oder einander wieder neu zu finden.
Das vielschichtig-erzählte Drama ist hochkarätig besetzt mit Ulrich Tukur (John Rabe, Das weiße Band, Das Leben der Anderen), Josef Bierbichler (Im Winter ein Jahr, Das weiße Band), Hafsia Herzi (Couscous mit Fisch, Haus der Sünde), Marie-Lou Sellem (Nichts bereuen, Gangs) und Samuel Schneider, der schon mit seinem ersten Auftritt in Boxhagener Platz 2010 schauspielerisch glänzte.
EXIT MARRAKECH ist die zweite Zusammenarbeit zwischen Caroline Link und Produzent Peter Herrmann nach ihrem gemeinsamen, großen Erfolg Nirgendwo in Afrika, für den Caroline Link 2003 den Oscar erhielt. Peter Herrmann zeichnete zuletzt für Anleitung zum Unglücklichsein und Wüstenblume verantwortlich.
Trailer
Interview mit Caroline Link
Wieso spielt Ihre Geschichte in Marokko?
Bevor ich wusste, wie meine Geschichte genau verlaufen würde, wusste ich bereits, dass sie in Marokko spielen sollte. Vor über zwanzig Jahren hatte ich eine Reise mit Dominik (Graf, Caroline Links Ehemann, Anm. d. Red.) dahin gemacht und hatte sie sehr intensiv in Erinnerung. 2011 bin ich dann mit Peter Herrmann, meinem Produzenten, nochmal an die gleichen Orte gefahren. Er hat mir die Freiheit gegeben, erst einmal das Land auf mich wirken zu lassen und Ideen zu sammeln und er hat gesagt: „Guck mal, was Dir dazu einfällt.“ Wir hatten einen Serviceproduzenten vor Ort, der uns viele Anekdoten und Geschichten über sein Land erzählt hat und der mich ziemlich inspiriert hat. Die gleiche Story hätte mich wahrscheinlich an einem anderen Platz nicht so interessiert. Marokko, die arabische, fremde Kultur bringt ein Gefühl von Gefahr und Sinnlichkeit in diesen Vater-Sohn-Konflikt, das hat mich gereizt.
Haben Sie das Land nach zwanzig Jahren so wahrgenommen wie beim ersten Mal?
Nein, es hat sich extrem verändert. Das Marokko, das ich vor zwanzig Jahren erlebt habe, habe ich nicht mehr gefunden. Marokko ist heute bis in den letzten Winkel, bis mitten in die Wüste hinein touristisch erschlossen – ganz anders als vor zwanzig Jahren. Aber ich fand die Idee interessant, mit diesem Tourismus und im Gegensatz dazu mit unserem klischeehaften Marokkobild zu spielen. Der Junge hat zum Beispiel in der Wüste kein großes Naturerlebnis, sondern er macht diesen absurden Quatsch mit, auf den Dünen Ski zu fahren. Das fand ich interessanter, als die Marokkobilder zu bestätigen, die wir aus der Literatur oder dem Kino bereits bis zum Abwinken kennen.
Sie scheinen diese Entwicklungen in Marokko aber zu bedauern, wenn ich an verschiedene Sätze Ihrer Figuren denke.
Ich bedauere das nicht. Das Leben ist für viele Marokkaner angenehmer geworden. Ich fände es zynisch zu sagen: „Schade, ihr seid gar nicht mehr so pittoresk arm wie vor zwanzig Jahren. Da hattet ihr noch gar keinen Strom, und es war alles irgendwie so ursprünglich.“ Natürlich ist ein gewisser Charme verloren gegangen. Es wurde besonders in Marrakesch viel zu viel gebaut und einige dieser Hotels und Shoppingcenter stehen heute leer.
Ihre Figuren nehmen Marokko sehr unterschiedlich wahr. Der Sohn bereist das Land mit offenen Augen, der Vater bleibt im Luxushotel, auch weil er glaubt, ohnehin schon alles über das Land zu wissen. Haben Jugendliche die bessere Sicht auf die Welt?
Sie haben nicht so viele Ängste. Wenn man erwachsen ist und schon ein bisschen was erlebt und gelesen hat, dann hat man manchmal vorschnell Meinungen. Ich merke selber, dass ich mir manchmal anmaße, Menschen relativ schnell beim ersten Gespräch zu beurteilen, und ich bin nicht mehr ganz so offen, neue Menschen in mein Leben zu lassen. Manchmal gibt man den Menschen oder den Orten gar nicht die Chance, sich von einer anderen Seite zu zeigen. Wenn man jung ist und vieles zum ersten Mal macht, hat man eine viel größere Bereitschaft, die Dinge einfach mal geschehen zu lassen.
Was hat sie an dem Verhältnis von Vater und Sohn gereizt?
Für mich beginnt jedes Drehbuch mit einer starken Konstellation. Es geht nicht nur um einen Protagonisten, sondern ebenso sehr geht es um sein Gegenüber. In der Literatur können das verschiedene Figuren sein. Ich glaube, im Kino sollte sich der Kern der Geschichte vor allem um zwei Menschen drehen. Zu mehr reicht die Zeit meistens nicht! Bisher waren das in meinen Geschichten meist Familienkonstellationen. Vaterfiguren spielen eine große Rolle, ich kann nicht wirklich beantworten warum. Ich hatte eine intensive und herzliche Beziehung zu meinem Vater. Aber es sind diese Emotionen, die mich bewegen, wenn ich mir eine Geschichte überlege. Dieser Ben ist ein pubertierender junger Erwachsener, der seinen Vater eigentlich gar nicht kennt. Und
damit einen Teil von sich selbst. In meinem Umfeld gibt es erstaunlich viele Kinder, die ohne Väter aufwachsen. Was wird aus dieser Generation, die extrem geprägt ist von alleinerziehenden Müttern? Vor allem Jungs fühlen sich ihren Müttern gegenüber oft verpflichtet. Manchmal überfordert sie diese Situation.
Wie konnten Sie sich in einen 17-jährigen Jungen hineinversetzen?
Ich muss mich nicht immer in meine Protagonisten hineinversetzen. Ich kann mich auch nicht in einen gehörlosen Vater (Jenseits der Stille, Anm. d. Red.) hineinversetzen. Ich versuche, mir als Autor meinen Reim darauf zu machen.
Haben Sie bei Ihren Figuren reale Vorbilder vor Augen?
Ja, real existierende Personen fließen bei der Figurengestaltung und in die Dialoge mit ein.
Wie sind deren Reaktionen, wenn sie sich wiedererkennen?
Wenn sie nicht zu schlecht dabei weg kommen, finden sie es wahrscheinlich gut. Meine Familie hat sich immer in meinen Filmen, vor allem in Jenseits der Stille und Nirgendwo in Afrika, wiedergefunden, obwohl sie konkret nicht vorkommt. Aber trotzdem spürt sie den Geist unserer Familie. Das Zitat „Manchmal ist die Fantasie besser als die Realität“ (aus EXIT MARRAKECH, Anm. d. Red.) ist von meinem Mann Dominik. Das ist ein Thema, über das wir viel diskutieren: Was muss man selber erleben? Reicht es nicht manchmal auch, etwas durch die Augen eines klugen Autors zu erleben?
Und wie ist die Antwort?
Wie immer liegt die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo dazwischen. Ich habe immer versucht, selbst
möglichst viel zu erleben, aber ich habe auch davon profitiert, dass Dominik mir auf den Reisen die passende Literatur gegeben hat. Und wenn man mit den Augen von Thomas Mann auf Venedig blickt, ist Venedig sogar noch ein bisschen spannender.
Und was braucht es neben der starken Figurenkonstellation noch für ein gutes Drehbuch?
Ich glaube, ein Kinofilm ist dann für ein größeres Publikum interessant, wenn es einen intensiven und emotionalen inneren Kern in einer Geschichte gibt und zudem eine äußere Attraktion. Also, der Konflikt muss für uns nachvollziehbar und bewegend sein, aber das alleine reicht nicht unbedingt. Es ist sehr hilfreich, wenn dieser universelle Konflikt durch eine fremde, äußerlich attraktive Welt intensiviert wird. In meinen Filmen war das bisher die Welt der Gehörlosen, Afrika, das Atelier eines Malers. Welten, die die Kinobesucher sonst eher nicht betreten. Die Leute denken, sie gehen wegen der schönen Afrikabilder ins Kino, aber berühren tut sie der Film nur, wenn der intime, innerste Kern sie erreicht und anspricht. Ich liebe es, in der Recherchezeit solche neuen fremden Welten zu betreten. Ich empfinde das als Privileg meines Berufs! Die emotionale Substanz meiner Geschichten muss ich allerdings ganz alleine aus meinem Innersten holen.
Noch einmal zurück nach Marokko: Es gibt in Ihrem Film noch eine zweite Familie, eine marokkanische Familie. Während ein Problem der deutschen Familie der starke Individualismus des Vaters ist, ist diese Familie in starken gesellschaftlichen Normen gefangen...
Man kann sich natürlich über die Rolle der Frauen in der islamischen Familie aufregen, die den allergrößten Teil der Arbeit leisten und zu wenig Rechte genießen. Was mich mehr interessiert hat, ist die Frage: Wieso gibt es trotzdem diesen starken Familienverbund, dieses extreme Gefühl von Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit? Viele Marokkaner aus dem Team haben uns gesagt: „Wir würden gerne in Deutschland Geld verdienen, aber wir möchten nicht in Deutschland leben müssen.“ Familie ist dort gottgegeben und der größte Wert an sich. Das hat etwas, das mich bewegt. Es war beeindruckend, bei den Dreharbeiten von diesen Familien eingeladen zu werden. Die Menschen berühren sich die ganze Zeit, die Familienmitglieder, die Freunde, die Dorfgemeinschaft. Sie hängen ständig aneinander, halten jemanden an der Hand, fassen sich pausenlos an. Das ist so selbstverständlich und herzlich. Das ist für uns ganz fremd.
Das hat wahrscheinlich auch den Geist am Set beeinflusst, oder?
So, dass wir dann aneinander rumgefummelt haben? (lacht) Ich dachte eher an die Stimmung.
Da prallen schon kulturelle Unterschiede aufeinander, das bestätigt jedes Klischee. Bella Halben, (die Kamerafrau, Anm. d. Red.) und ich können ziemlich energisch sein und so einen deutschen Disziplinton vorgeben: „Hop hop, wir haben viel zu tun, legen wir los!“ Die Marokkaner sind da etwas – sagen wir mal – entspannter. Da geraten unsere deutschen Vorstellungen von Effektivität manchmal schon an Grenzen. Aber sie machen trotzdem einen sehr guten Job, die Filmindustrie in Marokko ist top. Außer gutem Equipment kannst Du da alles kriegen. Die Manpower ist wirklich gut. Aber der Spirit ist natürlich ein bisschen anders.
Weitere Informationen zum Film unter www.exitmarrakech.de